Reibn zum Aufreibn
Dienstag 3:40 Uhr - verbleibende Zeit bis zur letzten Rückfahrt von St. Batholomä 12 h 50 min
Der Wecker jodelt uns wach. Natürlich viel zu früh - keine Uhrzeit zu der man normalerweise in den Tag startet. Heute schon ...
... wer sich eine große Tour vornimmt muss zeitig starten, wer en plus eine Deadline hat noch zeitiger. Unsere Deadline ist 16:30 Uhr, das letzte Schiff, das von St. Bartholomä nach Königssee ablegt. Das zu verpassen - schlechte Idee.
Unsere Sachen sind schnell beisammen: Skitourenausrüstung inklusive Harscheisen und 3 l Getränke, 8 Riegel sowie 1 Nuss Mix für den nötigen Energieschub auf unserer Odyssee durchs Hagengebirge und durchs Steinerne Meer.
Dienstag 4:20 Uhr - verbleibende Zeit 12 h 10 min (Start Parkplatz)
Der Schnee reicht im Jenner-Skigebiet noch bis ins Tal - kein Skitragen und schnelles Vorwärtskommen ist die Devise. Es ist noch Dunkel, nur der Mond leuchtet uns etwas. Auf dem samtigen Schnee gewinnen wir schnell an Höhe und unsere Motoren laufen warm. Es geht an der Mittelstation vorbei, bis dahin zeigt der Tacho an den steileren Passagen bis zu 20 Höhenmeter pro Minute. Wir sprechen kaum, lauschen nur unserem konstanten Atemrhythmus. Schon bald erreichen wir das Ende des Skigebietes und überwinden den Geländekamm, auf dessen anderen Seite unweit das Carl von Stahlhaus gelegen ist. Ab hier ist der angesagte kräftige Wind schon bemerkbar. Nach kurzer Verschnauf- und Blasenpflasterpause (lieber Prävention auf einer derartig langen Tour) befinden wir uns bereits im Gipfelhang des Schneibstein.
Dienstag 7:00 Uhr - verbleibende Zeit 9 h 30 min (Schneibstein Gipfel, auf zur Überfahrt)
Der Wind pfeift uns gehörig um die Ohren, als wir den Schneibstein Gipfel erreichen und sogleich hinter uns lassen. Felle runter und zuerst Richtung Windschartenkopf, dann links abgebogen und in die steile, hart verkrustete Abfahrt Richtung Süden. Wir fragen uns, ob es bei der Bewölkung später überhaupt auffirnt. Das würde den Genuss sicher steigern. Weiter versuchen wir nicht zu trödeln, doch der Wind treibt seine Spielchen mit uns und jagt eine Fellfolie mit Fleiß wirbelnd durch die Luft. Nach geglückter Verfolgungsjagd geht's Richtung Kahlersberg. Wir lassen den Berg rechts liegen und orientieren uns Richtung Süden. Vor uns liegt der erste lange "Hatscher". Die letzten Aufstiegsmeter, bis zur Abfahrt durch den Eisgraben, führen rechterhand um den Blühnbachkopf herum. Auch hier bläst es ordentlich.
Dienstag 11:15 Uhr - verbleibende Zeit 5 h 45 min (Nähe Jägerbrunntrog, Eisgraben olê)
Die Abfahrt durch den Eisgraben ist jedes Mal wieder ein landschaftlicher Hochgenuss. Bei dankbar weicherem Schnee surfen wir zwischen Felsabbrüchen hindurch der ersten Pause entgegen. Im Talboden direkt vor dem Lehlingskopf wird wieder aufgefellt. Der zuvor noch für Genuss sorgende weiche Schnee tränkt unsere Felle mit Nässe. Wie zu erwarten braucht es nicht lange bis unsere Felle eklig zu stollen beginnen und aus dem Genuss wird schnell ein Fluch. Besonders dieser Abschnitt hat es kräftemäßig in sich. Nicht nur die stollenden Felle. Es ist Spurarbeit angesagt und eine lange Querung, die unübersichtlich mit kleinen Felswänden gespickt ist, fängt allmählich an zu nerven (Anm. Allmählich ist an dieser Stelle arg beschönigend, es hat sehr schnell gewaltig genervt!). Der spöttisch über uns kreisende Militärhubschrauber schafft da auch keine Abhilfe. Gott sei Dank eingepackt: FELLWACHS! Das hebt die Stimmung etwas und die Spur, auf die wir kurz darauf stoßen, sorgt fast schon für Euphorie. Endlich können wir das Tempo wieder etwas anziehen.
Dienstag 12:30 Uhr - verbleibende Zeit 4 h (Spur gefunden, neue Hoffnung)
Die Frage, was tun, wenn das Schiff ohne uns ablegt, drängt sich immer lauter in unseren Verstand. Keine Pausen, nur hin und wieder einen Riegel und eine Hand voll Nüsse - nur nicht ausbrennen. Vorbei an der blauen Lache und die Geländerücken der langen Gasse anpeilen. Endlich kommt das Wildarmkirchl ins Blickfeld, was bestätigt, dass wir wegen der späten Uhrzeit zwar zusehends langsamer Vorankommen, aber es nicht mehr weit zum Totem Weibl sein kann. Die letzten entscheidenden Höhenmeter schlapfen wir in die Scharte - Höhenmetermäßig reicht es uns gewaltig.
Dienstag 14:15 Uhr - verbleibende Zeit 2 h 15 min (Totes Weibl, allerhöchste Eisenbahn)
Jetzt beginnt es zu pressieren. Die Felle runter, rein in die Bindung und losschnallen. Die Abfahrt ist im oberen Teil phänomenal. Im unteren Teil ist der Schnee schon so aufgeweicht, sodass die Ski nicht mehr richtig laufen. Wir fahren unsere Stöcke aus und betreiben mehr Langlauf als Skitour: "Mach es sicher, mach es nordisch", kommt mir in den Sinn. In den meisten Fällen ist das eine spaßige Sache, heute in keinster Weise. Wir müssen Meter machen!
Dienstag 14:35 Uhr - verbleibende Zeit 1 h 25 min (Kährlingerhaus. owei owei)
Bereits wieder auf Fellen unterwegs, gasen wir am Kährlingerhaus vorbei. Der Wegeweiser: "St. Bartholomä über Saugasse 3 3/4 h" verheißt nichts Gutes. Wir wollen das Boot auf keinen Fall verpassen. Das Gelände zeigt bergab und wir fahren, skaten und fahren bis wir endlich im steilen Teil der Saugasse ankommen. Eindrucksvoll grenzen die mächtigen Felswände den Schneeschlauch ein, auf dem wir abwärts buttern. Danach befinden wir uns auf einem flachen Talboden. Felsen, Wald, totes Holz und ein verwinkeltes Auf und Ab machen das Weiterkommen mühsam. Wir tragen die Ski und stapfen im Zick Zack durch die ebene Passage, ehe wir auf dem wieder abfallendem Weg nochmal mit Ski am Fuß das Tempo steigern können.
Dienstag 15:45 Uhr - verbleibende Zeit 45 min (Schrainbachalm, Königssee wir kommen)
Die Ski laufen in dem schattigen Tal besser als weiter oben und so kommt wenig später die Schrainbachalm in Sicht. Dort befindet sich ein Wegweiser: "St. Bartholomä über Saugasse 1h". Wir sind im Rennen! Der Weg spuckt uns 150 Höhenmeter oberhalb des Königssees an der südöstlichen Bergflanke aus. Das war es dann mit Schnee. In steilen Serpentinen windet sich der Weg am Berg entlang. Die Ski am Rucksack befestigt bewegen wir uns mehr laufend als gehend Richtung Erlösung. Um 16:18 Uhr passiere ich einen Wegweiser: "St. Bartholomä 15 min" nach erneuten fünf Minuten, das gleiche Schild - nicht gerade motivierend! Wir geben unseren müden Beine nochmal die Sporen. Ein letztes Mal für heute, für die letzten Meter. Am Seeufer entlang laufend, schweift der Blick nur flüchtig über die Kulisse. Großes und kleines Teufelshorn stehen markant über dem Obersee. Die direkte Entfernung via Luftlinie wirkt kurz, meine krächzenden Muskeln und Gelenke kennen aber die ganze Wahrheit - kurz, von wegen!
Dienstag 16:30 Uhr - 0 min (St. Bartholomä, geläutert, demütig und vollends geschafft)
Das Elektroboot gleitet leise auf dem stillen See. Wir sitzen, schauen, sagen nichts und lassen die Ruhe der Umgebung in unsere Glieder sacken. Die Berchtesgadener Alpen, ein Naturwunder der Superlative. Die große Reibn, die Tour der Touren in diesem Gebiet. Diese Variante an einem Tag, ein lang gehegter Traum. Die heute gesammelten Erinnerungen, ein kostbarer Schatz.
"Werde der du bist" (Nietzsche)
Route: Königssee Parkplatz - Carl von Stahlhaus - Schneibstein - Jägerbrunntrog - Eisgraben - Lehlingskopf - Blaue Lache - Lange Gasse - Totes Weib - Kährlingerhaus - Saugasse - St. Bartholomä - Königssee Parkplatz
Facts: - ca. 45 km
- ca. 3500 hm
- 12 h 8 min
Web (GPS): https://www.komoot.de/tour/14707005?ref=itd#previewMap
Ganze Reibn Toureninfo: http://www.bergsteigen.com/skitour/bayern/berchtesgadener-alpen/grosse-reibn-berchtesgadener-alpen