Bergell Durchquerung – Alleine unter Granitriesen

Die Osterferien nahen und wir fiebern voller Vorfreude unseren Plänen entgegen. Es soll nun endlich soweit sein. Ski, Seil und Pickel warten auf ihren Einsatz und wir denken erwartungsschwanger an die frische Bergluft des Abenteuers. Wenn die Bedingungen steile Abfahrten zulassen umso besser.

Doch dann kommt alles anders. Die Sehnsucht nach Berner Oberland wird zwar immer stärker, nur die Wettervorhersage wird – je näher der Termin der Anreise rückt – immer schlechter. Die Prognose ist sogar so mies, dass es fraglich ist, ob wir überhaupt irgendwo in den Alpen unseren Abenteuerdurst stillen können. Bereit alles abzusagen, tut sich ein kleiner Lichtblick auf, ein kleines Schönwetterfenster, nur lokal und etwas vage, aber uns muss man nicht lange bitten. Bergell wir kommen!

Ein neues ultimatives Ziel ist – inspiriert von den beeindruckenden Bildern eines kürzlich ausgestrahlten Bergauf und Bergab Beitrags – schnell gefunden. In dem Bericht hatten Hajo Netzer und sein Team Wetterpech und die hohe Lawinengefahr vereitelte das Weiterkommen an einem kniffligen Hang, sodass die Mehrtagestour mitten durch das Herz des Bergellmassivs nicht wie geplant umsetzbar war.
http://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/bergauf-bergab/tourentipp-bergell-fornogebiet-100.html

Hoffentlich behalten die Meteorologen Recht und wir befinden uns im heiteren Schönwettervakuum mitten unter den fürs Klettern berühmten Granittürmen.

23. März Tag 1 – vom Maloja Pass zur Fornohütte
Lang aber dafür flach

Der erste Tag unserer Unternehmung verläuft mit Startschwierigkeiten, ein echter Klassiker. Gemütlich sind wir schon ein paar Minuten unterwegs und nein, wir haben unser Material nicht auf Vollständigkeit geprüft. Also über die Loipe die paar Minuten zum Auto und zurück auf Start.

Die erste Etappe führt entlang des Orlegna Baches, vorbei am Lägh du Cavloc, nach dem sich unweit das Tal gabelt. Rechts haltend folgt man weiter der Talsohle, bis nach einem Aufschwung der Fornogletscher und bald links bergauf, der anfangs steile, später flacher werdende Aufschwung zur Hütte erreicht wird. Die letzten Meter legen wir im schwindenden Licht des Tages, das von der hereinbrechenden Stille der Nacht getilgt wird, zurück. Im Schein des aufgehenden Mondes weisen uns die bereits sichtbaren Lichter der Fornohütte den Weg. Die während des Tagesgangs aufgeweichte Schneeoberfläche ist schnell pickelhart gefroren. Mit Harscheisen mühen wir uns über die eisige Kruste.

An der Hütte angekommen, den warmen Klang anregender Gespräche der Hüttengäste vernehmend, blase ich im Dunkel der Nacht meinen sichtbaren Atem in den Schein der Stirnlampe. Mir wird bewusst, dass es genau das ist, was ich vermisst habe und wonach ich mich im Vorfeld gesehnt habe. Wir wollten eigentlich ins Berner Oberland, wir hätten unser Material checken sollen und wir hätten gerade deshalb schon längst gemütlich bei den anderen Gästen sitzen sollen. Es ist anders gekommen und trotzdem könnte ich mich nicht stärker darüber freuen, dass es genau so gekommen ist. Beäugt von satten und gutmütigen Schein des aufgehenden Vollmondes koste ich den Moment vollends aus, durchströmt vom purem Glück des Lebens, dankbar im Hier und Jetzt sein zu dürfen.

Die Hüttenbetreiber Beat Kühnis und Alena Plachá haben das Abendessen für uns noch auf dem Herd. So eine nette und zuvorkommende Bewirtung wie hier habe ich selten gesehen. Das Essen ist lecker und mehr als genug und die köstliche Nachspeise, die wir nicht ganz schaffen, wird extra für uns in eine leere Plastikflasche für den kommenden Winterraumabend eingepackt. Wir sinken mit prallgefüllten Bäuchen ins Bett.

http://fornohuette.ch/#page=home


24. März Tag 2 – von der Fornohütte zur Albigniahütte
Schöner Anstieg und traumhafte Pulverhänge

Wir fahren die wenigen Höhenmeter zum Fornogletscher über verharschten Schnee. Die Ski aufgefellt folgen wir dem flachen Gletscher Richtung Süden. Ein eisiger Wind bläst uns entgegen und tiefhängende Wolken ziehen schnell vorüber. Am Talende angekommen steigt man in westliche Richtung über sanfte Hänge – einige Spalten umgehend – hinauf zum Passo dal Cantun 3.354 m. Optional kann von hier aus der Cima di Castello 3.379 m bestiegen werden. Allerdings muss durch eine lange Querung auf die Westseite des Berges für eine Besteigung gewechselt werden.
http://www.gps-tracks.com/cima-di-castello-3375-m.%C3%BC.m.-skitour-S00099.html

Der Kälte wegen fellen wir ab und surfen über feinsten Powder hinab zum Albignia See. Die bereits sichtbare Albigniahütte wird nach einem halbstündigen Anstieg erreicht. Der Winterraum ist gemütlich und gut ausgestattet.


25. März Tag 3 – von der Albigniahütte zur Sciorahütte
Das Bergell von seiner schönsten Seite

Nicht ganz soweit wie am Vortag, aber auch heute starten wir, über den zugefrorenen See den Talboden folgend, Richtung Süden. Die Felsen, die die rechte Talseite begrenzen, geben nach einer Weile einen Durchschlupf preis. Ein anfangs flacher Hang führt in eine steile Rinne. Hier heißt es früh dran sein. Zu dieser Jahreszeit kann der ostseitig ausgerichtete Steilhang schnell durchfechten und lawinengefährlich sein.

Danach wird das Gelände schlagartig sanfter und gemächlich steigen wir Richtung Westen zum Cacciabella Pass 2.896 m. Nur die letzten Meter zum Grat werden mit Ski am Rucksack kletternd zurückgelegt, ehe wir auf der anderen Seite 30 Meter abseilen.

Das Wetter, satt blauer Himmel, ohne eine Wolke, könnte nicht besser sein. Es ist bereits Nachmittag und die kalten Schatten der beeindruckenden Nordwände des Piz Cengalo 3.369 m und des Piz Badile 3.308 m strecken ihre Fingerspitzen weit Richtung Osten. Seit dem Aufbruch von der Fornohütte haben wir keine Menschenseele mehr getroffen. In der wilden Einsamkeit des Bergell schwingen wir den sonnigen Westhang hinab zum Winterraum unserer letzten Übernachtung, der Sciorahütte.

Noch lange sitzen wir auf dem windgeschützten Treppenabsatz vor der Eingangstür und bestaunen die Granitriesen gegenüber – im Sommer muss schwer geklettert werden, um sie zu besteigen, im Winter sind sie unnahbar!

http://www.sachoherrohn.ch/main.asp?cid=36


26. März Tag 4 – von der Sciorahütte auf den Cima della Bondasca mit Abfahrt nach Bondo
Fulminantes Finale einer Traumtour

Den ersten Aufschwung von der Hütte zum Bondascagletscher spuren wir durch kniehohes weißes Gold. Wir sind mit leichtem Rucksack unterwegs und haben alles überflüssige Material an der Hütte gelassen. Umso besser, dass wir den Pulverhang bei der Abfahrt noch mitnehmen können. Der zerklüftete Bondascagletscher weist unscheinbare Begehungsspuren auf, denen wir, wegen der erleichterten Orientierung im diffusen Licht, dankbar folgen. Hohe Bewölkung schiebt sich immer wieder vor die Sonne und nimmt dem Gelände sämtliche Kanten und Konturen.  Wir begehen die flachsten Passagen des Gletschers, einige Spalten und hängende Gletschertürme umgehend, und wechseln vom östlichen zum westlichen Gletscherrand.

Zwei steile Anstiege überwunden, befindet man sich vor einer Felskanzel. Die Gipfelkette südlich ist dicht in Wolken und wir sputen uns, um die Abfahrt noch bei guten Sichtverhältnissen meistern zu können. Das Glück begleitet uns bis zum Schluss. Es tuen sich immer wieder Wolkenfenster und sonnige Abschnitte auf. Die Sicht ist besser als beim Aufstieg. Bei meist guten Schnee pulvern wir unter den Granittürmen des Piz Cengaolo und des Piz Badile durch die bizarre Szenerie des zerklüfteten Bondascagletscher.

Bleibt noch der Hang bis zur Hütte. Das coupierte Gelände lädt zu einer kreativen Linie und zum Springen ein. Die eingeschneiten Felsen bilden perfekte Rampen für Grabs und Flips und das vor diesem Hintergrund, was für eine Hammerabfahrt!

Eine kurze sonnige Pause an der Hütte und das restliche Material eingepackt, geht es den zweiten Teil des nicht enden wollenden Runs zurück in die Zivilisation nach Bondo. Auch heute war außer uns niemand unterwegs.

http://www.gps-tracks.com/cima-della-bondasca-3289-m.%C3%BC.m.-skitour-S00097.html


Diese geniale Tour ist mehr als nur ein Ausweichziel, so wie es sich bei uns nur durch einen zufälligen Umstand ergeben hat. Eine Mehrtagesskitour, die neue Maßstäbe setzt – wilde und romantische Landschaft, abgelegene und einsame Winterräume und bei etwas Schneeglück phänomenale Abfahrten. Die Idee eine Mehrtagesskitour in einem der bedeutendsten Alpinkletterreviere der Alpen anzugehen liegt nicht unbedingt nahe, ist aber ein cleverer Coup und kann nur von jemanden unternommen werden, der das Gebirge bis ins letzte Detail kennt. Danke Hajo für deine Inspiration!

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Wagendrischlhorn - Vom Schrecksattel nicht abschrecken lassen

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Barre des Écrins Normalweg