König Ortler - Auf Streifzug am höchsten Berg Südtirols

Es ist Sonntag der 9. April 2017, der Tag davor, der Tag an dem sich bereits alles nach den Notwendigkeiten und Erfordernissen des Folgetags richtet. Eine minimale Aufgeregtheit glimmt unter den glatten und ruhigen Wogen des Bewusstseins - nur am etwas flauen Gefühl im Magen bemerkbar. Früh genug in Sulden angekommen, konnten wir noch eine Seilschaft im Blankeis des oberen Wandteils durch das Fernglas erkennen. Es ist gespurt, gute Vorzeichen. Auch heute nehmen wir die Seractürme war – überdimensionale Würfel, groß wie mehrstöckige Häuser – die bedrohlich am Marltgrat über der Nordwand hängen. Ungefähr vor einem Jahr kamen uns polternd und krachend Teile davon entgegen. In diffuser Dunkelheit und Angststarre peitschten uns, beim Verebben des lauten Grollens, Schneewind und Eispartikel ins Gesicht. Unser Glück, dass wir noch weit genug von der Wand entfernt waren. Nervlich in uns zusammengesunken, schlurften wir niedergeschlagen zur Tabarettahütte und haben uns dort um 5.00 Uhr in die Betten verkrochen. Erinnerungen an einen Tag, an dem wir in dieser Route ganz und gar nicht erwünscht waren, sowie die Worte von Jon Krakauer: „Die Natur des Gletschers ist die Bewegung, die Gewohnheit des Seracs ist sein Kollaps.“ werden ins Unterbewusstsein zurückgedrängt. Wir wussten damals um die objektiven Gefahren und wissen es auch jetzt. Nichtsdestotrotz hat uns die Ästhetik, die Dimension und der Mythos dieser Wand infiziert und für sich eingenommen.

Ein trügerischer Bereich des Bergsports ist genau jener, in dem sich Sehnsucht und Vernunft überlagern, aber auch genau jener, der unser Bergsteigerleben reich macht und aufzeigt, welche außerordentliche Leistungen die Pioniere des Sports vollbracht haben – genau weil sie sich in diesem Bereich bewegt haben. 1931 wurde die noch ausstehende große nordseitige Wandflucht von Hans Ertl (Ertl Rinne) und Franz Schmid erstmals durchstiegen und 1982 von Andreas Orgler durchgehend mit Ski befahren. Die Minnigerode Rinne, von Alois Minnigerode und Josef Pinggera 1878 erstbegangen und von Heini Holzer 1975 als Skiabfahrt eröffnet, soll auch uns als schnelle Abstiegsvariante mit Ski zurück ins Tal dienen. Unsere Einschätzung die Skier mitzunehmen, wird von drei Tirolern, die wir am späten Nachmittag nach ihrer Nordwandbegehung treffen, als sinnvoll deklariert. Der Abstieg zu Fuß zieht sich und eine nach ihnen aufsteigende Zweier-Seilschaft musste im Ortlerbiwak nächtigen. Die Bedingungen seien gut, der obere Wandteil erfordere einige Seillängen. Wir bedanken uns für die Auskunft und schon machen sich die drei müden Augenpaare und die erschöpften Gesichter auf den Heimweg. Die Grundstimmung ist positiv, doch die kleinen Zweifel – hartnäckig weit im Hinterkopf sitzend – bleiben. Die assoziative Mühle beginnt sich im Kopf immer wieder von neuem zu drehen, mal mit positiven, mal mit negativen Gefühlen untermauert und begleitet uns bis in die Nacht. Wie könnte es bei einer Tour mit dieser Ernsthaftigkeit auch anders sein? Bereits um 20.00 Uhr liegen wir, um den Absprung in einen erholsamen Schlaf bemüht, im Schlafsack – schließlich ist der Wecker auf 2:00 Uhr gestellt...

Ohne von der Notwendigkeit des Weckers Gebrauch zu machen, schäle ich mich aus dem Schlafsack. Wir tragen unsere Skier eine halbe Stunde bis zur Schneegrenze. Keiner von uns spricht ein Wort. Jeder ist für sich, jeder allein mit seinen Gedanken. Die helle Leuchtkraft des Vollmondes, der schwer über dem Ortlergipfel hängt, zeichnet scharf die Schattensilhouette des Marltgrates vor uns in den Schnee. Nach kurzer Zeit stehen wir unterhalb des Einstieges in die Schneerinne. Jener Tourenabschnitt, der dringlichste Eile verlangt – den mahnenden Seracs hoch darüber geschuldet - liegt direkt vor uns. Fast wie ein Déjavu kracht es weit oben. Dieses mal weniger laut, weniger beängstigend und der Abgang verliert sich weit über uns. Keiner von uns erwähnt den Vorfall. Keiner von uns denkt ans Umdrehen.

Eine kleine Stärkung, rein in die Steigeisen, die Pickel zur Hand, die Gurte angelegt, die Seile vorbereitet, die Skier und Stöcke am Rucksack und schon geht’s los. Von hier bis zur Gurgel stapfen wir im kontinuierlichen Führungswechsel schnell und schwer atmend. Die Spurarbeit ist überschaubar, dennoch anstrengend. Die Spur ist zum Teil zugeweht, zum Teil ist sie vom mehligen Schnee des Abgangs von eben bedeckt. Zwischenzeitlich verweilen wir kurz, um unserem Kompressor genügend Zeit zum Nachlaufen zu gewähren. Das Damoklesschwert über uns treibt uns jedoch unmittelbar wieder vorwärts, weiter die Rinne hinauf. Eine Eiszunge bleckt linksseitig vom felsdurchsetzten Durchschlupf der Gurgel zu uns herab. Wir halten uns rechts davon im Schnee, bis auch hier Eis und Fels den Weg versperren. Jetzt ist endlich die Zeit für eine Pause, die jedem guttut. Der Tee wärmt und der Kopf entspannt sich etwas – den gefährlichsten Teil haben wir hinter uns gebracht, es ist 6:30 Uhr.

Die Eisgeräte und Steigeisen dringen in das Eis. Alle fühlen sich wohl, sodass wir die Gurgel ohne Seil überklettern. Wir halten uns nach einigen senkrechten Metern rechts und erreichen ein weites Feld mit dünner Schneeauflage auf Blankeis. Über diese Spur steigen wir empor, bis das Blankeis uns letztlich zu Standplatzsicherung zwingt. Teilweise begleitet von den ratternden Rotoren eines Hubschraubers unmittelbar hinter uns, weit oben in der Ortler Nordwand – ein irres Gefühl. Zwei Seillängen sprödes Eis fordern seinen Tribut an Ausdauer und Kraft, überbrücken die Schwierigkeiten in leichteres Gefilde. Am laufenden Seil steigen wir in die Sonne, die sogleich die fröstelnden Glieder wärmt. Die Skier am Rucksack machen sich nach so langer Zeit bemerkbar und die längste Eiswand der Ostalpen will, obwohl kräftemäßig allmählich am Ende, nicht so recht enden.

Um eine Kante und wir befinden uns in leichterem Gelände, das flacher aus der Wand auf den Marltgrat führt. Außer uns ist nur ein weiterer Skibergsteiger unterwegs. Er kam aus der Schückrinne und klinkt sich als „Trittbrettfahrer“ über eine drei Meter lange Eispassage, der letzten Schwierigkeit, mit ins Seil. Danach ist es geschafft und wir steigen zum bereits nahenden Gipfel.

Um 11:00 Uhr sitzen wir dort alleine in der Sonne – Brotzeit, Genuss, Panorama, Erschöpfung. Der Einzelgänger kommt wenig später am Suldenferner zum Vorschein. Er hat, genauso wie wir es vorhaben, die Minnigerode Rinne mit Ski befahren.

So lange will es uns, durch die ausstehende südseitige Abfahrt, nicht halten. Die Schuhe klacken in die Bindungen, das Seil ist aufgeschossen am Rucksack und wir tasten uns vom Gipfel direkt in die steile Abfahrt. In der megamäßigen Kulisse von Zebru- und Königsspitze Nordwand setzen wir mit völliger Kontrolle unseren ersten Schwung. Der Schnee ist oberflächlich weich und darunter griffig – ideal. In direkter Falllinie zum Gipfel folgen wir den Spuren unseres Vorgängers. Nach wenigen Schwüngen brauchen unsere Oberschenkel eine Pause. Die Höhe, die schweren Rucksäcke und die Höhenmeter des Aufstiegs tun ihr übriges. Eine ganze Weile dauert unsere Abfahrt durch die südseitige Steilwand. Imposante Ausgesetztheit mahnt zu bedachter und sicherer Skiführung. Hybris ist in dieser Exponiertheit lebensbedrohlich.

Weiter unten queren wir „Skiers left“ aus der Rinne in ein breiteres und flacheres Schneefeld, dass bis zum Suldenferner hinab führt. Jetzt ist cruisen angesagt und die Anspannung fällt von uns ab. Das Skigebiet ist schnell erreicht und von dort sind wir alsbald im Tal am Bus. Insgesamt waren wir zwölf Stunden unterwegs und konnten zwei Superlativen (Aufstieg über die Nordwand und Abfahrt über die Minnigeroderinne) am Ortler an einem Tag verbinden – eine lang erträumte Kombination.

Vier Tage nachdem wir am Ortler waren ist in der Minnigerode Rinne ein junger Skifahrer tödlich verunglückt. Gegenüber dem Leben verliert die Faszination am Berg jeglichen Wert, doch macht auch sie uns zu dem, wer und was wir sind. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen und Freunden.

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Cima Tosa - Oh du schönste unter den Eisrinnen

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Mit Ski auf das Geiselhorn 2288 m - Hauserrinne eine imposante Firnrinne